Typisches aus England "Queen-Anne"-Pistolen aus der Zeit um 1710
von Udo Lander
Das System des abschraubbaren Laufes ist für England schon vor der Mitte des 17. Jahrhunderts mit Realstücken belegbar. Hierbei handelte es sich um Reiterpistolen, deren gezogene (!) Läufe im Mittel eine Länge von 230 bis 310mm hatten und die entweder einen dem abschraubbaren Lauf entsprechend geteilten Vorderschaft, oder aber in den meisten Fällen einen Halbschaft besaßen, bei dem der Lauf frei stand. Das dadurch etwas unelegante Äußere glichen diese Pistolen durch eine außergewöhnliche Treffgenauigkeit und Reichweite aus, die in ihrem System begründet lagen.
Das "Turn-Off"-System
Die herkömmlichen, in der Regel glattläufigen Steinschlosspistolen wurden von der Mündung her geladen, wobei die Kugel immer etwas kleiner als das Laufkaliber war. Dies erleichterte und beschleunigte den Ladevorgang zwar erheblich, weil die Kugel selbst bei verkrustetem Lauf ohne besondere Anstrengungen mit dem Ladestock durch den Lauf befördert werden konnte, hatte jedoch erhebliche negative Einflüsse auf die Treffleistung und Reichweite, da durch den Zwischenraum von unterkalibriger Kugel und Laufwandung ein stattlicher Teil der Treibgase ungenutzt ins Leere verpuffte. Im Gegensatz dazu handelte es sich bei den Pistolen mit dem Turn-Off-System um echte Hinterlader.
Bei abgeschraubtem Lauf wurde die Kammer mit Pulver gefüllt, die mit dem Lauf kalibergleiche Kugel auf die Pulverkammer gesetzt, dann der Lauf aufgeschraubt. Die dadurch erreichte, starke Passung der Kugel im Lauf garantierte optimale Ausnutzung der Treibgasenergie und dadurch eine hohe Treffgenauigkeit. Dies wurde noch weiter dadurch begünstigt, daß auf Grund des vorgegebenen Maßes der Pulverkammer diese bei jedem Schuss mit exakt der gleichen Pulvermenge geladen werden konnte. Selbst glattläufige Turn-Off-Pistolen, die im übrigen während des gesamten 18. Jahrhunderts die Regel waren, übertrafen mit ihrer Leistung die gewöhnlichen Vorderladerwaffen bei weitem. Das "Turn-Off"-System konnte sich ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts und wurde in England zur dominierenden Konstruktion.
Die ersten nach diesem System gefertigten Pistolen kamen um 1680 auf, wobei sie gleichzeitig ein völlig neues, konstruktives Element aufwiesen:
Das "Box-Lock"-System
Während die bisherigen Pistolen mit abschraubbarem Lauf noch ein ganz normales, separat an der rechten Schaft- und Laufseite angebrachtes Steinschloss besaßen, waren die nun auftauchenden Pistolen so konstruiert, daß Pulverkammer, Schwanzschraube, Pfanne, Schlossblech und Unterbügel eine Einheit bildeten, wobei der Schlossmechanismus in der Verlängerung der Laufachse hinter der Pulverkammer eingebaut war. Gleichzeitig hat man die Schlagfeder, die bisher an der Innenseite des herkömmlichen Steinschlosses befestigt war und damit dessen Länge nicht unerheblich beeinflusste, nach hinten in den Bereich des Kolbens verlegt, wo sie am Unterbügel fixiert wurde. Durch die Verkürzung des Schlossbereichs ergab sich nun in der Folge eine Verlagerung der Batteriefeder unter die Pfanne in der Art, daß ihre Biegung zwischen Pfanne und Hahn zu liegen kam.
Auf Grund dieser wohldurchdachten Konstruktionsmerkmale wurde ein Optimum an Kompaktheit und mechanischer Stabilität erreicht, wie man es bis dahin noch nicht gekannt hatte der ungeheuere Erfolg dieses Pistolentyps war damit vorgezeichnet und beinahe zwangsläufig. Und da diese fortschrittliche Konstruktion während der Regierungszeit der Königin Anna (1702-1714) zur Blüte kam, werden diese Pistolen noch heute als "Queen-Anne"-Pistolen bezeichnet!
Fünf "Queen-Anne"-Pistolen
Das typische Beispiel einer Pistole der Periode um 1700 entspricht ganz dem Stilempfinden ihrer Zeit, das bei den herkömmlichen Steinschlosspistolen kantige Laufansätze bevorzugte.
Technische Daten : Gesamtlänge : 295 mm - Lauflänge : 167 mm - Kaliber : 16 mm - glatter Lauf |
Auch die von JOHN HARMANN aus London gefertigte Waffe (Bild ) besitzt einen kantigen, im Stil der Zeit floral gravierten Laufansatz, dem eine facettiert gearbeitete Pfanne und Batterie entsprechen. Der Lauf hingegen ist rund und zeigt einen ausgeprägten Mündungswulst, der ihm das Aussehen eines Geschützrohres verleiht, weshalb diese Läufe auch "Canon-Barrels" genannt werden. Dieser Mündungswulst hatte jedoch nicht nur Dekorationsfunktion: Da diese Pistolen häufig auf Reisen im Sattelholster mitgeführt wurden, sollte der Mündungswulst verhindern, daß die in der Regel an der Mündung ziemlich dünnwandigen Läufe das Holster durchscheuerten.
Alle diese kurz vor, während, aber auch nach der Regierungszeit der Königin Anna hergestellten Pistolen folgen bezüglich der Garniturteile einem fast einheitlichen Schema, wenngleich eine gewisse Variationsbreite zu beobachten ist. Da das Schaftholz konstruktionsbedingt auf den Bereich hinter dem Schloss reduziert ist, beschränkt sich die Garnitur auf eine Kolbenkappe, ein Daumenblech und ein Schlossgegenblech. Allerdings hat dieses Gegenblech nur noch schmückenden Charakter, da auf Grund der Anordnung der Schlossmechanik und das Fehlen eines separat angebrachten Schlossblechs auch keine Schlossschrauben mehr vorhanden sind, zu deren Unterlage das Schlossgegenblech ursprünglich gedient hat. Während bei den luxuriöseren Waffen dieses Typs die Beschläge aus Silber gegossen waren, genügten bei den einfacheren und daher sicherlich auch billigeren, jedoch keineswegs schlechteren Pistolen Messingbeschläge, die aber, was die künstlerische Gestaltung anbetraf, den Silberbeschlägen in keiner Weise nachstanden. Eine Waffe mit Messingbeschlägen zeigt das folgende Bild
Technische Daten : Gesamtlänge : 325 mm - Lauflänge : 195 mm - Kaliber : 16 mm - glatter Lauf |
Hierbei handelt es sich um eine von G. HALFHIDE aus London um 1705 gefertigte, relativ große Pistole, deren Kolbenkappe in Form eines Löwenkopfes mit am Kolbenrücken hochgezogener Mähne typisch ist für die Queen-Anne-Periode. Diese Kolbenkappenart, die im übrigen in leicht veränderter Art auch an der Harmann-Pistole vorhanden ist, wurde gegen Ende der Regierungszeit der Königin Anna offensichtlich unmodern und durch eine Groteskmaske ersetzt, die sich im ganzen 18. Jahrhundert anscheinend großer Beliebtheit erfreute, ist sie doch auf neun von zehn Pistolenknäufen zu finden.
Nicht weniger zeittypisch ist das in Drachenform gearbeitete Gegenblech der Pistole von G. Halfhide, welches in dieser Form auch nur bis ca. 1720 vorkommt. Bild zeigt eine Pistole mit gleichem Gegenblech, welches jedoch in Silber gegossen ist. Da diese Pistole von einem anderen Büchsenmacher, nämlich DAVID WYNN aus London, ebenfalls um 1705 gefertigt wurde, kann dies als Beleg dafür angesehen werden, daß die Beschlagteile nicht von den Büchsenmachern selbst gefertigt worden sind, sondern daß die Silber- und Messingteile von entsprechenden Silberschmieden bezogen wurden.
Technische Daten : Gesamtlänge : 275 mm - Lauflänge : 140 mm - Kaliber : 16 mm - glatter Lauf |
Die Pistole von Wynn ist insofern bemerkenswert, als sie ungewöhnlicherweise nicht nach dem "Turn-Off"-System gefertigt wurde, sondern ganz normal von vorne geladen werden mußte und somit auch über einen an der Laufunterseite angebrachten Ladestock verfügt. Ihre Existenz ist ein augenfälliger Beweis für die Beliebtheit der kompakten Form der "Queen-Anne"-Pistole gegenüber der normalen, vollgeschäfteten Steinschlosspistole, wenngleich ihre Existenz sicherlich als die Ausnahme von der Regel verstanden werden muss.
Als weiteres, typisches Kennzeichen der frühen "Turn-Off"-Pistolen kann der Abzugsbügel gesehen werden.
Dieser ist bei den Waffen, die während der Regierung der Königin Anna und kurz danach entstanden, mit einer fast bis zur Kolbenkappe reichenden Verlängerung versehen und endet nach vorne in einem unter dem Schlosskasten liegenden Fortsatz, dessen Abschluss meist in Form einer heraldischen Lilie gearbeitet ist. Ab ca. 1725 ändert sich dies völlig: Von nun an besitzt der Abzugsbügel weder einen hinteren, noch einen nach vorne reichenden Fortsatz, sondern ist auf den engen Bereich um den Abzug begrenzt, ein Charakteristikum, welches das Erkennen der frühen Pistolen sehr vereinfacht.
Technische Daten : Gesamtlänge : 295 mm - Lauflänge : 167 mm - Kaliber : 16 mm - glatter Lauf |
Bei einer weiteren, frühen Pistole, die ebenfalls einen nicht abschraubbaren Lauf besitzt, ist der Abzugsbügel sogar aus Silber gegossen. Diese Pistole ist am Schlosskasten rechts unten "Segallas Londini" signiert, zeigt an der Unterseite des Schlosskastens die Prüf- und Beschaumarke der London Gunmaker's Company, dazwischen die Meistermarke "IS" unter Krone und ist ganz offensichtlich dem in London schon 1702 nachweisbaren Büchsenmacher ISRAEL SEGALLAS zuzuschreiben.
Letztlich soll eine weitere, echte "Queen-Anne"-Pistole, die ebenfalls aus der Werkstatt des Londoner Büchsenmachers DAVID WYNN stammt, vorgestellt werden. Sie unterscheidet sich alleine schon durch ihre geringen Dimensionen von den bisher vorgestellten Waffen. Das Auffälligste an der Pistole, deren Lauf im übrigen abschraubbar ist, ist ihr voluminöser Kolben aus ausgesuchtem Bruyère-Holz, welcher in einer ausgeprägten, silbernen Kolbenkappe endet. Das bei diesem Waffentyp sonst obligatorische Daumenblech und ein Gegenblech sind vom Büchsenmacher bewusst weggelassen worden, wohl in der Absicht, den schönen Schaft alleine zur Geltung zu bringen. Ihre nahezu unnachahmliche Form macht diese Pistole zum regelrechten Handschmeichler.
Technische Daten : Gesamtlänge : 205 mm - Lauflänge : 110 mm - Kaliber : 12 mm - glatter Lauf |
Literatur :
Udo Lander, DWJ 1981, H. 8, S. 1154-1158
Arne Hoff, Feuerwaffen I u. II
Norman Dixon, Georgian Pistols
Jon Glendenning, British Pistols and Guns
Anmerkung : Die hier beschriebenen Pistolen werden auch in der Sonderschau des Kuratoriums über englische Waffen auf der IWB in Stuttgart gezeigt.