Britische Sea Service Pistol –- Marinepistole 1805


Geschichte


Anfänge

Im Jahr 1684 wurde ein Ordonnanzbefehl erlassen, wonach auf Kriegschiffen der 1. Klasse Ihrer Majestät 40 Pistolen an Bord mitzuführen waren. Schiffe der 1. Klasse hatten dabei nach damaliger Klasseneinteilung eine Besatzung von 300 Mann. Leider ist heute nahezu alles, was man über die frühen Schiffspistolen der Royal Navy des 17 und frühen 18. Jahrhunderts sagen kann, höchst spekulativ, haben sich doch von diesen Waffen bis heute nur sehr wenige Originalstücke erhalten.

Eines der frühen, heute bekannten Exemplare einer solchen Pistole hat das Jahr 1720 als Datierung eingeschlagen. Diese Waffe ist jedoch nicht nur wegen ihrer frühen Datierung, sondern insbesondere deswegen höchst interessant, weil sie mit ihrem langen Gürtelhaken und Schloss sowie dem markanten Messingbeschlägen bereits alle Charakteristika zeigt, welche bis weit in das 19. Jahrhundert hinein für die Pistolen der Royal Navy kennzeichnend bleiben sollten.

Englische Fertigungsqualität und -quantität

Die hier vorgestellte Marinepistole mit der englischen Originalbezeichnung „Long Sea Service Pistol“ zeigt auf der Kolbenoberseite die Datierung „1805“ eingeschlagen, dem Jahr, in dem sie im Towerarsenal eingelagert wurde. Obwohl diese Waffe nahezu ein Jahrhundert nach der im Vorigen erwähnten Pistole des Jahres 1720 gefertigt wurde, zeigt sie sich fast unverändert. Einzig ihr Schaft wurde geringfügig kräftiger, dafür ist ihre Verarbeitungsqualität, gemessen an z.B. preußischen Waffen der gleichen Fertigungszeit zwar immer noch sehr hoch, doch im Vergleich zu ihrem Vorgänger aus dem Jahr 1720 muss man gewisse Abstriche machen. Diese Qualitätsminderung ist im übrigen an allen englischen Militärfeuerwaffen festzustellen. Sie sind mit den enormen Produktionszwängen zu begründen, unter denen die Waffen während der napoleonischen Kriege gefertigt werden mussten..

Obwohl Originalstücke des frühen 18. Jahrhunderts heute extrem selten sind, kann man feststellen, dass die englische Long Sea Service Pistol in bemerkenswerten Mengen produziert wurde. Zwar sind die exakten Produktionszahlen heute nicht nachweisbar, doch ein nützlicher Anhalt diesbezüglich ist eine Anordnung des „Board of Ordnance“ vom 7. September 1747, mit der die Anzahl der im Tower-Arsenal zu bevorratenden Long Sea Service Pistols auf 20.000 Stück festgesetzt wurde. Hinzuzurechnen sind dabei natürlich die auf den Schiffen der Royal Navy bereits vorhandenen Pistolen. Dass die Pistolenherstellung während der Amerikanischen Revolution, insbesondere aber während der Jahre der Napoleonischen Kriege zwischen 1804 und 1813 gewaltig anstieg, liegt auf der Hand. Daraus und aus der Tatsache, dass hunderte dieser Waffen im Tower-Arsenal aufbewahrt blieben, resultiert natürlich auch die relativ gute Verfügbarkeit der Long Sea Service Pistol heutzutage.

Bemerkenswert ist, dass der Londoner Tower in den 1960er-Jahren mehrere Verkaufsveranstaltungen durchführte, bei denen viele dieser Pistolen jeweils sogar im Dreierpack an Händler und Sammler abgegeben worden sind.

Signaturen und Marken

Schon seit dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts besaßen die Sea Service-Pistolen Steinschlösser mit flachen Schlossblechen, die mit dem überkrönten Monogramm des jeweiligen Herrschers gekennzeichnet waren. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Schlösser der vor 1764 produzierten Pistolen die Namen der Büchsenmacher wie z.B. Heylin, Grice oder Vernon trugen, die als Vertragsnehmer die Waffen gefertigt hatten. Nach 1764 zeigten die Schlösser nur noch die „TOWER“ Signatur, in ganz seltenen Fällen auch die Signatur des „DUBLIN CASTLE“ für das Dubliner Arsenal sowie das königliche Monogramm des jeweiligen Herrschers. Im vorliegenden Fall zeigt die Pistole das Monogramm von König Georg III (1760-1820). Als weiterer staatlicher Stempel ist auf dem Schloss und auf dem Lauf der sogenannte „Broad Arrow“ mit Krone eingeschlagen. Er dokumentiert die staatliche Abnahme und damit den britischen Staatsbesitz – erst mit dem Einschlag dieser Marke hatte der produzierende Büchsenmacher Anrecht auf die entsprechende Bezahlung seiner Arbeit. Das Jahr der Aufnahme oder Einlagerung im Tower-Arsenal wurde schließlich mit einem Stempel am Kolben dokumentiert – im vorliegenden Fall ist dies das Jahr 1805, das Jahr, in dem die berühmte Seeschlacht von Trafalgar stattfand.

Ob die vorliegende Pistole an diesem historischen Ereignis Anteil hatte, ist zwar denkbar, jedoch leider nicht zu belegen. Da diese schiffsbezogenen Markierungen/Signaturen nicht vorgeschrieben, sondern nur optional waren, sind heute entsprechend gekennzeichnete Pistolen der britischen Kriegsmarine in der Minderheit. Wenn solche Markierungen angebracht wurden, dann findet man diese im allgemeinen an der Kolbenkappe eingraviert, manchmal aber auch in den Kolben eingebrannt.

Lagerung an Bord und Verwendung im Gefecht

Alle Handwaffen an Bord eines Kriegsschiffes, so auch die Pistolen wurden in einem speziellen Raum gelagert, von dort an die Mannschaft bei Bedarf verteilt und auch wieder zurückgenommen. Die meist unter der Wasserlinie liegende, dunkle und Salzluft geschwängerte Waffenkammer ohne ausreichende Lüftung war für die darin gelagerten Waffen alles andere als zuträglich: Rost war ein alltägliches Problem und man versuchte dagegen anzugehen, indem man die Eisenteile der Waffen mit Teer einstrich.. Manche bis auf heute erhaltene Bordpistole zeigt immer noch Spuren dieses Anstrichs. Aber nicht nur der Rost setzte den Pistolen zu, sondern auch die nach ihrem Einsatz allfällige Reinigung, bei der die Waffen meist zerlegt wurden, eine Prozedur, die für die Pistole auf Dauer mindestens genauso schädlich war, wie ein harter Einsatz.

Diese negativen Einflüsse auf die Pistolen kann man aus heutiger Sicht durchaus nachvollziehen und verstehen. Was aber mit den Pistolen während eines Gefechts passierte, ist für einen Sammler und Liebhaber dieser alten Stücke heute nahezu unvorstellbar, wenngleich damals ständige und offensichtlich völlig normale Praxis: Nach der Schussabgabe hat man die Pistole nicht mehr nachgeladen, dazu blieb einfach keine Zeit, sondern sie wurde einfach als Wurfgeschoss gegen den Feind verwendet. Diese Praxis wurde auf den Kriegsschiffen so allgemein angewendet, dass sie sogar Eingang in die entsprechenden Bordinstruktionen fand.

Aber auch zum Schutz gegen Entermesserhiebe auf den Kopf wurden die Pistolen gerne verwendet, wozu man die Pistole entweder mit der ganzen Hand am Koben oder mit dem Daumen durch den Abzugsbügel so gefasst hat, dass die Waffe auf dem in Kopfhöhe gehaltenen Unterarm zu liegen kam.

Man kann sich leicht vorstellen, dass eine derartige Behandlung für die Pistolen mehr als abträglich war, ja meist zu deren Verlust, oder zumindest so erheblicher Beschädigung führte, dass ein weiterer Gebrauch völlig ausgeschlossen war. Dies wiederum erklärt aber auch die hohen Fertigungs- und Bevorratungszahlen der Pistolen in den Arsenalen.

Gürtelhaken

Noch ein Wort zu dem an der vorliegenden Pistole angebrachten Gürtelhaken.

Es liegt in er Natur der Dinge, dass eine geladene Pistole, die mit ihrem Haken am Gürtel des Matrosen hing, im Gefecht eine ständige Bedrohung für seine Beine und Füße gewesen ist. Dies auch dann, wenn der Hahn der Waffe in der Ruhrast stand. Einzig eine zusätzliche Sicherung, wie z.B. ein hinter dem Hahn angebrachter und in den Hahnkorpus eingreifender Sicherungshaken, der den Hahn sicher blockierte, hätte Abhilfe schaffen können. Doch eine solche zusätzliche Sicherung ist an britischen Marinepistolen nicht zu finden. Es musste genügen, wenn der zuständige Waffenmeister bei den Pistolen darauf achtete, dass das Zusammenspiel von Nuss und Abzugsstange einwandfrei gewährleistet war, so dass der Hahn nicht unbeabsichtigt aus der Ruhrastposition springen und so den Schuss lösen konnte.

Andererseits war das Vorhandensein eines Gürtelhakens beim Entern eines feindlichen Schiffes unabdingbar. Der Matrose brauchte im Moment des Enterns zwei freie Hände um sich irgendwo festhalten zu können. Wenn es dann auf dem Deck des geenterten Schiffes zum Kampf Mann gegen Mann kam, bei dem das Entermesser die tragende Rolle spielte, waren zwei freie Hände sicherlich auch nicht von Nachteil. Die Pistole am Gürtelhaken war dabei nur der letzte, lebensrettende Strohhalm in auswegsloser Situation.

Doch der Gürtelhaken ließ auch manche Wünsche offen. So gingen zum Beispiel nicht wenige Pistolen verloren, weil ein Matrose stürzte oder im Säbelgefecht einem Hieb ausweichend in die tiefe Hocke ging und der auf das Deck gestauchte Lauf die Waffe aus dem Gürtel hob. Dennoch blieb der Gürtelhaken an der Pistole gegenüber allen anderen Möglichkeiten wie z.B. ein Kolbenring mit Fangriemen an Handgelenk die absolut bessere Lösung. Zwar verhinderte ein fest am Mann angebrachter Fangriemen sehr zuverlässig den Verlust der Waffe, aber gerade das konnte zu kritischen Momenten führen, wenn der Mann die leergeschossene und hinderliche Pistole loswerden, oder wie oben beschrieben, in den Gegner schleudern wollte. .Ein Losbinden des Fangriemens kostete unter Umständen kostbare Sekunden, die möglicherweise lebensentscheidend waren.

Abschließend bleibt festzustellen, dass die Long Sea Service Pistol der englischen Kriegsmarine mit wenigen Änderungen nahezu 100 Jahre im Borddienst verblieben ist, eine Karriere, die, egal in welcher Armee, eigentlich nur sehr wenigen militärischen Ausrüstungsstücken vergönnt war. Um 1820 wurden viele ihrer Art noch auf eine Lauflänge von 229mm gekürzt, doch erst die Übernahme der Perkussionszündung auch bei der Marine setzte die Long Sea Service Pistol endgültig aufs Altenteil.



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