Die Großherzoglich Hessische Kavalleriepistole

M 1822/44/56


Geschichte


Ziemlich unbekannt - die Großherzoglich Hessische Kavalleriepistole M 1822/44/56

Text Udo Lander

Reorganisation des darmstädtischen Kavalleriekontingents

Auf der Grundlage der Kriegsverfassung des Deutschen Bundes, die bis 1821 erarbeitet war, setzte der hessische Großherzog die Stärke seiner Kavallerie auf 885 Reiter fest, die sich auf ein Garde-Chevaulegers-Regiment und eine kleine Husaren-Abteilung verteilten. Ausgerüstet waren die Reiter vorerst mit einem Paar Pistolen 1814 aus Pistor’scher Produktion und einem schmalkaldischen Säbel in Lederscheide mit Stahlblechbeschlag. Neu war darüber hinaus jedoch, daß nur noch die Schützen der Eskadrons mit je einem Karabiner ausgerüstet waren.

Doch schon ein Jahr später änderte sich dieses Ausrüstungssoll wieder erheblich: 1822 kam die Allerhöchste Anordnung, daß jeder Reiter nur noch eine Pistole als Ausrüstung erhalten sollte und daß die alten, schmalkaldischen Säbel gegen einen solchen mit Messingkorb nach französischem Muster , aber nun mit Stahlblechscheide einzutauschen waren.




Kriegsverfassung des Deutschen Bundes und die Folgen

Hintergrund für diese Änderungen dürfte eine im darauffolgenden Jahr durchgeführte, erneute Umorganisation und vor allem komplette Neuausrüstung der Kavallerie mit Feuerwaffen gewesen sein:

Die Husarenabteilung wurde 1823 ganz aufgelöst und dafür das Garde-Chevaulegers-Regiment von vier auf sechs Eskadrons verstärkt, was einer Stärke ohne Stab von 1176 Mann entsprach.

Die erneute Umbewaffnung der großherzoglich hessischen Kavallerie dürfte ihren Grund höchstwahrscheinlich in der Kriegsverfassung von 1821 für das deutsche Bundesheer gehabt haben. Dort wurde die dringliche Forderung erhoben, daß innerhalb des VIII. Bundes-Armeekorps, zu dem das Großherzogtum Hessen neben dem Großherzogtum Baden und dem Königreich Württemberg gehörte, für die Infanteriegewehre, Karabiner und Pistolen, sowie für die Geschütze das gleiche Kaliber eingeführt werden mußte. Dieses betrug für die Handfeuerwaffen im VIII. Armeekorps 7 Linien 9 Punkte Pariser Maß (17mm).

Oberndorf liefert

Schon 1822, während der Planungsphase für diese Neuorganisation und Umbewaffnung, war an die königlich württembergische Gewehrfabrik in Oberndorf am Neckar eine Bestellung über 1501 Steinschlosspistolen und eine gleiche Anzahl Karabiner nebst Ladestock und Kugelzieher ergangen. Die erste Lieferung mit 500 Karabinern zu je 11 Gulden 4 Kreuzer und 1000 Pistolen zu je 6 Gulden 57 Kreuzer erfolgte schon im Geschäftsjahr 1822/23 und die zweite Lieferung mit 1001 Karabinern und 501 Pistolen zu jeweils gleichen Preisen ging im Geschäftsjahr 1823/24 im Hauptzeughaus Darmstadt ein . Daraus kann geschlossen werden, daß nun wieder jeder Reiter neben seiner einzelnen Pistole einen Karabiner und einen separat am Bandelier zu tragenden Ladestock erhielt, der für beide Waffen verwendet werden konnte.

Mit der Ausgabe dieser Oberndorfer Pistolen an die Kavallerie wurden die Pistolen M 1814 aus Schmalkalden bei der Kavallerie ausgemustert und an das großherzoglich hessische Artillerie-Korps abgegeben. Da die oben angeführte Forderung der Kriegsverfassung des Deutschen Bundes die Ausrüstung der Artillerie mit Handfeuerwaffen nicht erwähnte, konnte man also die nicht dem geforderten Standardkaliber entsprechenden Pistolen M1814 aus Schmalkalden ohne Probleme an die Artillerie ausgeben.

Die neuen, im Königreich Württemberg produzierten Pistolen sollten im übrigen, so lange keine Einführungsverordnung gefunden ist, nach dem Jahr der Auftragserteilung an Oberndorf als M 1822 bezeichnet werden

Kennzeichnung

In die Zeit der Verwendung der großherzoglich hessischen Pistole M 1822 fällt auch die erste Stempelvorschrift für alle Militärrequisiten der großherzoglichen Armee . Darin wurde verbindlich angeordnet, daß unter anderem alle im Bestand eines Truppenteils vorhandenen Feuerwaffen die jeweilige Regiments- oder Korps-Bezeichnung sowie den Eskadrons- bzw. Kompanie-Buchstaben zusammen mit der laufenden Nummer innerhalb dieses Truppenteils erhalten mussten.

Für die beiden Pistolenmuster war als Ort der Anbringung dieser Stempelung die rechte Kolbenseite vorgeschrieben und zwar so, daß die Bezeichnung zum Schloss hin lesbar war. Leider sagt diese Stempelvorschrift nicht, wie die Regiments- und Korpsbezeichnungen gelautet haben, Geht man jedoch von den Truppenstempeln aus, die sich auf Säbeln des Großherzoglich Hessischen Kontingents finden lassen, welche Mitte der 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts eingeführt, aber schon 1854 durch ein österreichisches Modell ersetzt wurden – also noch weit vor der Einführung der überarbeiteten Stempelvorschrift von 1857, die somit keinen Einfluss auf die Stempelung der zum Einführungszeitpunkt der neuen Vorschrift bereits ausgemusterten Blankwaffen haben konnte – so sahen die Truppenstempel auf den zeitentsprechenden Kavallerie- und Artilleriepistolen folgendermaßen aus:

Kavalleriepistolen

R = Reiter / A-F = 1.- 6. Eskadron / lfd. Waffennummer

z.B. R.D.122 = Reiterregiment, 4. Eskadron, Pistole N°122

Artilleriepistolen

A. = Artilleriekorps,

A.A. = Artilleriekorps, 1. Batterie

A.B. = Artilleriekorps, 2. Batterie

A.C. = Artilleriekorps, 3. Batterie

A.D. = Artilleriekorps, 4. Batterie

A.R. = reitende Artillerie

z. B. A.C.72 = Artilleriekorps, 3. Batterie, Pistole N°72

Eingeschlagen waren diese Truppenstempel mit Schlagzahlen, die höchsten ½ Zoll hoch sein durften.

Zum Einschlagen der Truppenstempel mussten alle Waffen, also auch die Pistolen der in der Residenz Darmstadt stationierten Truppenteile an die dort ansässige Büchsenmacherwerkstatt abgegeben werden, wobei die genaue Kennzeichnung jeder einzelnen Waffe mitgeliefert werden mußte. In den auswärtigen Garnisonen ist diese Truppensignatur durch periodisch dorthin entsandte Büchsenmachergesellen vorgenommen worden. Die Stempelvorschrift von 1829 wurde, wie oben bereits erwähnt, erst durch eine neue diesbezügliche Vorschrift vom 18. Dezember 1857 außer Kraft gesetzt.

Die Perkussionszeit

Der technische Fortschritt auf dem Feuerwaffensektor, jahrhundertelang eher im Schneckentempo dahinkriechend, erfuhr zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch immer rascher aufeinander folgende Neuentwicklungen und bahnbrechende Erfindungen im Bereich der Naturwissenschaft und Technik eine stetige Beschleunigung. Wie in allen anderen Staaten auch, sah sich deshalb der hessische Großherzog sowie seine führenden Militärs gezwungen, auf die neuen Herausforderungen hinsichtlich der Waffenausrüstung des großherzoglichen Kontingents entsprechend zu reagieren, wenngleich die Modernisierung der Bewaffnung für eine ganze Armee immer mit immensen Kosten verbunden war und Gelder verschlang, die an anderer Stelle sicherlich noch weit dringender benötigt wurden – eine Situation, an der sich bis heute noch nichts geändert hat.

Dem Beispiel zahlreicher anderer deutscher Staaten folgend, begann man in Darmstadt Ende 1839 mit der Perkussionierung der vorhandenen Infanteriegewehr-Bestände. Diese Arbeiten wurden in den Zeughauswerkstätten zu Darmstadt durchgeführt und wie überall mußte auch im hessischen Großherzogtum die Kavallerie deutlich länger auf die Modernisierung ihrer Pistolen und Karabiner warten, als dies bei der Infanterie der Fall war, deutliches Zeichen auch hier dafür, wie gering der Wert dieser Requisiten für die Kavallerie tatsächlich eingeschätzt wurde. Da in der einschlägigen Literatur hierzu keinerlei Angaben zu finden sind, ist anzunehmen, daß die Reiterei spätestens ab 1844, vielleicht auch schon 1843 komplett mit auf das neue Perkussionssystem umgebauten Pistolen und Karabinern ausgestattet war.

Beim Umbau auf das Perkussionssystem erhielten die Darmstädter Pistolen analog ihren Pendants in Württemberg und Baden eine bisher nicht vorhandene Abzugsschraube, die allerdings vorerst noch direkt ins Schaftholz eingeschraubt war, also noch nicht das Schaft-schonendere, eiserne Unterlegplättchenplättchen besaß, wie dies bereits in Württemberg und Baden der Fall war.

In der Stempelvorschrift von 1857 findet man nun auch den ersten Hinweis auf die bei gut erhaltenen und noch nicht völlig verputzten großherzoglich hessischen Feuerwaffen sehr oft zu beobachtende Löwen-Marke am Pulversack oben links. Dort heißt es dazu

„Die Handwaffen erhalten.......auch noch durch die Zeughausdirection, soweit dies vorgeschrieben ist, das Controlezeichen der Annahme und die Sichtungsnummer. Das Controlezeichen ist ein Löwe “..... „Bei den Handfeuerwaffen ist das Controlezeichen auf der linken Seite des Pulversacks einzuschlagen; die Sichtungsnummer ebendaselbst.“


Minié-Waffen für die Chevaulegers

Im Jahre 1856 tat die Großherzogliche Armee-Division, wie das hessische Kontingent seit dem 5. Februar 1849 genannt wurde, zusammen mit den badischen und württembergischen Truppen und zur Einhaltung der Forderungen der Kriegsverfassung des Deutschen Bundes hinsichtlich der Kaliberstandardisierung im VIII. Bundes-Armeekorps einen weiteren, bedeutsamen Schritt hin zur Moderne: 1856 erhielten die Reiter des Chevaulegers-Regiments nach dem System Minié gezogene Karabiner und Pistolen . Die Umbauarbeiten hierzu, also das Einschneiden der Züge in die bisher glatten Läufe, soweit diese noch tauglich waren, oder der Austausch der nicht mehr tauglichen Läufe gegen gezogene und die Änderungen an der Visiereinrichtung geschah in der württembergischen Gewehrfabrik Oberndorf am Neckar.

Neben der von der Steinschloss- auf die Perkussionszündung umgearbeiteten Pistolen M 1822/44/56 UM wurden aber auch neue Perkussionspistolen in der Württembergischen Gewehrfabrik Oberndorf beschafft, die, da von vornherein als Perkussionswaffen konzipiert, natürlich keinerlei Aptierungsmerkmale mehr aufwiesen.

Änderungen in der Waffenausstattung nach österreichischem Vorbild

Zwischen 1853 und 1856 hatten die Chevaulegers neben ihren gezogenen Pistolen auch typgleiche Karabiner erhalten . Dies änderte sich jedoch im Jahre 1863 dahingehend, daß die sehr gut schiessenden Minié-Karabiner wie bei der österreichischen Kavallerie bis auf 16 Mann je Eskadron wieder abgeschafft und nur die gezogenen Pistolen M 1822/44/56 und M 1856 generell beibehalten wurden . Daran sollte sich auch nichts ändern, als 1867 16 Reiter und 1868 schon insgesamt 76 Reiter per Eskadron mit Zündnadelkarabinern M/57 ausgerüstet wurden. Der karabinerlose Rest der Eskadrons führte nach wie vor die Pistole. Erst im Juni 1869 besaßen schließlich alle Reiter den preußischen Zündnadel-Karabiner M/57 und damit, so ist zu vermuten, wurden die Perkussionspistolen zumindest bei der großherzoglich hessischen Kavallerie ausgemustert. Zwar wird die Pistole der Reiterei im Militärverordnungsblatt vom 21. Januar 1869 nochmals erwähnt, als eine dort veröffentlichte, neue Stempelvorschrift exakt den Ort angibt, wo die Truppenstempelung an der „althessischen Pistole“ anzubringen ist. Doch wird sie in den einschlägigen Regimentsgeschichten danach nirgendwo mehr erwähnt – sie hatte wohl ihre Schuldigkeit getan.

Minié überall

Die Umstellung auf das Minié-System in der Großherzoglich Hessischen Division war total: Auch die Berittenen der Feldartillerie gaben ihre bis dato geführten Pistolen M 1814/44UM vermutlich während des Jahres 1855 ab; diese wurden dann ebenfalls nach Oberndorf transportiert und, so sie noch dazu taugten, dort mit gezogenen Läufen versehen und 1856 wieder an die Artillerie ausgegeben. Damit sind diese Pistolen ein höchst beachtlicher Beleg für die Sparsamkeit in einer Armee des 19. Jahrhunderts: Nach immerhin schon 42 Jahren Gebrauchszeit nochmals auf den neuesten Stand der Technik gebracht, sollten diese Artilleriepistolen noch den Krieg 1870/71 aktiv miterleben. Erst danach wurden sie gegen die glattläufige preußische Pistole M/50 ausgetauscht – welch ein Rückschritt.

Das Minié-Geschoss

Für alle Minié-Waffen der großherzoglich hessischen Division gab es im übrigen nur ein einziges, einheitliches Expansionsgeschoss, lediglich die Pulverladungen unterschieden sich. Das Minié-Geschoss besaß ein eisernes Culot, hatte ein Gewicht von 40.62g, eine Länge von 30mm und ein Kaliber von 16,9mm, so daß die Treibgase beim Schuss das Geschoss mittels des Culots um 0,2mm im Durchmesser aufweiten mussten, damit dieses Kontakt mit den Zügen erhielt. Bei den diversen Pistolen der hessischen Division reichten dazu 2,5g Schwarzpulver .

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