Das gezogene preußische Pioniergewehr U/M
Geschichte
Nach 1815 erhielten die preußischen Pionierabteilungen französischen Karabiner, teilweise auch abgeschnittene französische Infanteriegewehre von Kaliber 17,52 mm. Im Jahre 1850 wurden diese Pioniergewehre auf das Perkussionssystem geändert. Sie führten entsprechend der Anordnung des KM vom 8.4.1853 die Bezeichnung "Pioniergewehr U/M". Bereits 1857 tauschten die Pioniere diese Waffen gegen ebenfalls aus französischen Beutestücken gefertigte gezogene Waffen, eben das oben erwähnte "gezogene Pioniergewehr U/M" nach dem System Miniè.
Das Modell an sich ist bekannt und seine Verwendung bei den preußischen Pionieren in der älteren und neueren Literatur (Lander, Wirtgen) auch hinlänglich beschrieben. W. Hoffmann z. B. beschreibt es in seiner Waffenlehre von 1860 wie folgt:
Das gezogene Pionier-Gewehr (aus französischen Infanterie-Gewehren M/1777 umgeändert): Der Lauf unterscheidet sich, (außer durch die Tabelle § 384. angegebenen Maße) von dem Laufe des gezogenen Infanterie-Gewehrs U/M durch Folgendes: Auf dem Laufe ist ein Haft zur Befestigung des Bajonetts. Visierung: 1 Standvisier (ohne Lochvisier) und 1 Visierklappe (ohne Schieber, nur mit 1 Visierloch für 450 Schritt und 1 Glattvisier für 600 Schritt).
Schloss und Schaft wie beim gezogenen Infanterie-Gewehr U/M. Der Ladestock hat unterhalb des Kopfes 1 Loch für den Ladestockknebel; am unteren Ende ein Schraubengewinde.
Das Bajonett ist für die französische Befestigung konstruiert. Garnitur: Die Ringfedern für den Mittel- und Unterring sind ohne Köpfe, folglich auch die Ringe nicht durchbohrt. Sonst wie gewöhnlich. Equipagestücke: Kugelzieher (per 10 Gewehre 1) mit Muttergewinde zur Befestigung am Ladestock und in der Mitte mit aufgelöteter Messingkugel. Ladestockknebel, Krätzer (nur zum Entladen von Platzpatronen, eventuell mit Werg umwickelt, zur Vertretung des Putzstocks). Im Übrigen wie beim gezogenen Infanterie-Gewehr.
Neben den Pionieren waren auch die Kolonnen der Artillerie mit diesem Gewehr bewaffnet.
Das vorliegende Gewehr hat auf der Kolbenkappe einen Artillerie-Truppenstempel - 198. 6. A. B. 3.C. = 6. Artillerie-Brigade (schlesische ab 1850 in Neiße), 3. Kompanie(oder Kolonne), Waffe Nr.198. Die Artillerie-Brigaden wurden ab 1850 wieder zu Artillerie-Regimentern und diese dann durch AKO vom 29. Juni 1860 wiederum zu Artillerie-Brigaden. Der Truppenstempel wurde somit entweder vor 1850 angebracht und unverändert beibehalten oder erst nach 1860 eingeschlagen.
Das Exemplar war ursprünglich ein französischen Chasseurgewehr oder auch FUSIL DE DRAGON MODELE AN IX., hergestellt in der Manufaktur in Mutzig. Im Jahre 1850 wurde es ausweislich der unter dem Lauf eingeschlagenen Jahreszahl auf Perkussion aptiert und 1856/57 nach dem System Miniè umgeändert. Das Gewehr wurde um 19 cm gekürzt, der eiserne Mittelring mit den zwei Bändern wurde durch einen einbündigen Messingring ersetzt. Der obere Messingring wurde durch eine eiserne Warze auf dem Lauf fixiert, das eiserne Korn befindet sich nun auf dem vorderen Teil. Der Lauf wurde mit fünf Zügen versehen. Als Visierung dient ein Standvisier (bis 300 Schritt) und eine Messingklappe (bis 600), in welcher ein Segment bis 450 Schritt eingelassen ist. Das französische Bajonett wurde beibehalten. Auf dem Schaft befinden sich zwei sogenannte Super-Revisionsstempel, für die Endabnahme FW (in Schreibschrift) unter Krone auf der linken Kolbenseite und ein älterer FW-Stempel (in Blockschrift) auf der Schlossgegenseite im Schaftholz. Das bedeutet, dass das Gewehr dreimal verändert wurde. Die beiden FW-Stempel auf dem Kolben dürften wohl für die Änderung von Steinschloss auf Perkussion, und später auf das System Miniè stehen. Die Änderung auf Perkussion wird auch durch die Jahreszahl 1850 und den Buchstaben N unter dem Lauf dokumentiert. Die Jahreszahl bedeutet das Jahr der Änderung und N steht für den Ort, die Gewehrfabrik Neiße in Schlesien. Bei der Änderung auf das System Miniè wurde die Tagebuchnummer 2342 auf die linken Laufseite und in den Schaft auf der Schlossgegenseite geschlagen. Diese Änderung wurde auch in Neiße durchgeführt, was an der N-Stempelung auf der Schwanzschraube erkannt wird. Der ältere FW-Stempel auf der Schlossgegenseite, der A-321 Stempel unter dem Lauf und auf der rechten Kolbenseite wurde bei der Kürzung des Gewehres noch in der Steinschlossversion geschlagen. Bei einer dieser Änderungen wurde wohl auch das Schloss durch sauberes Einleimen einer neuen Holzeinfassung im Schaft neu eingepasst. Dies war notwendig geworden, weil entweder das Holz ausgefranst, oder ein neues Schloss eingesetzt wurde.
Über die Anzahl der auf Miniè geänderten Gewehre gibt es unterschiedliche Angaben, so schreibt Wirtgen, dass 235008 Gewehre M 1839, 65966 Gewehre U/M und nur 1457 Pioniergewehre U/M bis November 1856 in gezogene Gewehre umgeändert wurden. Die angegebenen 1457 Stück deckten aber bei weitem nicht den Bedarf der Pionier-Abteilungen. Dagegen wird in der Schrift: „Rückblick auf Preußens Gewehrumänderung nach dem Miniè’schen System“ 1857 folgendes ausgeführt:
„Dank der allseitigen Tätigkeit war die Umänderung von circa 220000 Infanteriegewehren M/39 in Jahresfrist, also bis August 1856 vollendet, der sich sodann, da man, wie schon erwähnt, zur Bewaffnung der noch nicht mit Zündnadelgewehren ausgerüsteten Bataillone der Linie und Landwehr, resp. Zur Augmentation für den Kriegsfall circa 300000 Gewehre bedurfte, sodann die noch 80000 Stück Infanteriegewehren U/M anschloss, welche mit Ausgang des Jahres 1856 vollständig beendet war.
Hat unsere Gewehr-Umänderung nach dem Miniè`schen System effektiv bis Mitte Februar dieses Jahres gewährt, so kam dies daher, dass nach Beendigung der Umänderung der Infanterie-Gewehre auch noch französische Infanterie-Gewehre zu verkürzten gezogenen Pionier-Gewehren für unsere sämtlichen Pionier-Abteilungen umgeändert wurden.“
Wenn also zur Umänderung von 80000 Infanterie-Gewehren U/M vier Monate benötigt wurden, so dürften von Januar bis Mitte Februar 1857 mindesten 10000 bis 15000 gezogene Pioniergewehre U/M gefertigt worden sein, was wohl auch dem Bedarf entsprach; waren doch bei der Mobilmachung 1870 ca. 14500 Zündnadelpioniergewehre vorhanden.
Durch A.K.O. vom 16. November 1865 wurde das gezogene Pioniergewehr U/M durch ein Zündnadelgewehr mit aufgesetztem Pionier-Faschinenmesser das Zündnadel-Pionier-Gewehr U/M ersetzt. Die Einführung des aus den Zündnadelbüchsen M/54 umgeänderten Zündnadelpioniergewehrs U/M erfolgte aber erst 1867, nur das Gardepionierbataillon führte es schon 1866.
Im Krieg gegen Dänemark 1864 führten also die am Krieg und namentlich an den Stellungskämpfen vor den Düppeler-Schanzen beteiligten preußischen Pionierbataillone das gezogene Pioniergewehr. Sogar noch im Feldzug von 1866 war Preußen mit seiner Umbewaffnung der Armee mit Zündnadelgewehren nicht vollkommen fertig. Teile der preußischen Landwehr mussten mit dem gezogenen Mod. 39 ins Feld rücken. Auch das gezogene Pioniergewehr wurde noch von den preußischen Pionieren (ausgenommen das Gardepionierbataillon) geführt.
Nach Bekanntmachung des Kriegsministeriums vom Januar 1869 wurde dann ein neues Zündnadel-Pionier-Gewehr M/69 genehmigt und eingeführt. Nach dem Krieg 1870/71 erhielten die Pionieret das aptierte Zündnadelpioniergewehr M/69, welches dann später durch die Jägerbüchse M/71 abgelöst wurde.