Französische Steinschloßpistole für Offiziere der Kriegsmarine
Geschichte
Text Udo Lander
Die Sache mit dem Seehundskopf
Der Ausgang des Siebenjährigen Krieges war für Frankreich und seine Kriegsmarine alles andere als glücklich verlaufen: Canada und Indien waren an England verloren und auf den Weltmeeren segelten zu allem Überdruß immer noch stolz und von allem unbeeinduckt die Schiffe der Royal Navy mit dem Union Jack im Top. Diese für den französischen Nationalstolz fast unerträgliche Situation galt es daher so rasch als möglich zum Positiveren zu verändern. Deshalb begann in Frankreich mit großer Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung die völlige Reorganisation der französischen Kriegsmarine. Im Laufe dieser Renaissance erhielt schließlich auch die Waffenmanufaktur in Tulle, die bisher unter privater Regie betrieben worden war, den offiziellen Status einer „Manufacture Royale“ mit allen sich daraus für die Fertigung und deren Kontrolle ergebenden Konsequenzen. Tulle wurde damit zum Hauptlieferanten von Handwaffen für die königliche Marine und die Kolonialtruppen. In dieser Zeit entstand auch die erste eigenständige und wegen ihrer Formgestaltung unverkennbare Kriegsmarine-Pistole 1779 , die jedoch nur zum Gebrauch für die Matrosen und Bootsleute an Bord der Kriegsschiffe, nicht aber zum Gebrauch für die Marineoffiziere an Bord vorgesehen war.
Extrawurst
Auch die Offiziere der französischen Kriegsmarine waren wie ihre Standeskollegen bei allen anderen europäischen Armeen gehalten, sich ihre Handwaffen, somit auch ihre Pistolen, wenn sie denn welche haben wollten, selbst zu beschaffen und vom eigenen Gehalt oder Vermögen zu bezahlen. Da die in der Manufaktur von Tulle für die Kriegsmarine neu entworfene und gefertigte Pistole 1779 sich bei den Besatzungen in kürzester Zeit als recht beliebt erwies, nicht zuletzt deswegen, weil sie als völlig eigenständige und nur für die Kriegsmarine entwickelte Waffe als etwas Besonderes, ja beinahe Symbolhaftes angesehen wurde, wollten offensichtlich auch viele Marineoffiziere in diesem Punkt nicht abseits stehen. Da ihnen aber der Zugriff auf die der Mannschaft vorbehaltenen Bordpistolen aus den oben genannten Gründen verwehrt war, wandten die Herren Offiziers sich an private, in den französischen Hafenstädten ansässige Büchsenmacher, die ihnen Pistolen anzufertigen hatten, welche der Bordpistole 1779 nach Meinung der adligen Auftraggeber so weit wie nur irgendmöglich zu entsprechen hatten. Grundbedingung war natürlich, daß die Ausführung und Verarbeitung dieser selbst beschafften Offizierwaffen dem gesellschaftlichen Stand auf der einen, der finanziellen Potenz des Bestellers auf der anderen Seite zu entsprechen hatte. So entstanden in den Jahren nach 1779 zahlreiche mehr oder weniger reich verzierte, teilweise sogar vergoldete, zivile Nachbauten der Pistole 1779, die teils mit Messing-, teils mit Eisenbeschlägen versehen waren, fast immer aber den charakteristischen Laufring der Bordpistole 1779 besaßen.
Die Marktlücke
In der Manufaktur von Tulle war es den Büchsenmachern erlaubt, neben ihrer vertraglichen Arbeit in der Fabrik auch einen eigenen Laden sowie eine eigene Werkstatt in der Stadt zu unterhalten . Es war ihnen sogar freigestellt, die von ihnen auf Grund ihres mit der Manufaktur geschlossenen Arbeitsvertrages anzufertigenden Stückzahlen an Einzelteilen nicht unbedingt an ihrem Arbeitsplatz in der Manufaktur, sondern in ihrer eigenen Werkstatt zu produzieren und von da an die Manufaktur zu liefern.
Einer dieser Handwerker und Ladenbesitzer war der Büchsenmacher Duché aus Tulle, welcher im Jahre 1780 eine gewinnversprechende Marktlücke entdeckte und nutzte, indem er begann, für die standesbewußten Herren Marineoffiziers spezielle Pistolen mit Schäften herzustellen, deren Kolben in stilisierten Seehundsköpfen endeten . Diese eigenartigen Steinschloßpistolen, die in den allermeisten Fällen als Paare verkauft wurden, entsprachen von ihrer Konstruktion her der Bordpistole 1779, waren in der Regel aber deutlich kleiner gehalten und besaßen entweder eine normale Kolbenform mit entsprechender Kolbenkappe oder aber den bereits erwähnten Seehundskopf, welcher als Ausdruck der maritimen Tradition der französischen Marine und der Verbundenheit des Pistolenbesitzers zu seinem Beruf verstanden werden sollte.
Paarweise Produktion
Das Geschäft mit diesen „Chien de Mer“-Pistolen lief offenbar so gut, daß die Produktion nicht mehr nur auf den Büchsenmacher Duché beschränkt blieb. Zahlreiche Hersteller in Tulle, wie z.B. Amat, Collet, Dauphiné, Désaga, Gillet, Machat, Muchot, Menoz, Pauphile, Piron, Saugon und andere versuchten sich von diesem vielversprechenden Kuchen gleichfalls ein Stück abzuschneiden, so daß man ihre Signatur ebenso auf den Pistolen mit dem Seehundskopf findet. Die in der Regel paarweise gefertigten und auch so verkauften Waffen trugen dabei meistens auf dem Schloßblech der einen Pistole den Namen des Herstellers, z.B. „Duché“ oder „Machat“ und auf dem Schloßblech der anderen Pistole die Ortsangabe „à Tulle“ .
Verschiedene Ausführungen
Da es sich bei den Chien de Mer-Pistolen nicht um Waffen handelte, die staatlich vorgegebenen Ordonnanzbestimmungen oder sonstigen behördlichen Vorgaben zu entsprechen hatten, ist ihr Variantenreichtum entsprechend der Geschmäcker und Vorlieben ihrer adeligen Auftraggeber nahezu unbegrenzt. Nicht nur ihre Dimensionen sind in vielen Fällen unterschiedlich, auch das Material der Beschlagteile wurde oft verschieden gewählt. Darüber hinaus besaßen die Schlösser wahlweise Hähne mit Schwanenhals oder solche mit dem stabileren, herzförmigen Durchbruch. Und entsprechend der vom Auftraggeber des Pistolenpaares bevorzugten Trageweise erhielten die Offizierpistolen einen seitlichen Gürtelhaken wie die Bordpistole 1779 oder sie waren von deutlich kleinerem Ausmaß und damit für eine Trageweise in den innenseitigen Taschen der Rockschösse vorgesehen .
Verwendungszeitraum
Da die Marine-Offizierpistolen keiner königlichen Ordonnanz entsprachen, auch innerhalb der Gattung nicht homogen waren, gab es natürlich auch keinerlei Vorschriften, wie lange oder bis wann diese speziellen Waffen verwendet werden durften. Sicherlich haben die Besitzer ihre selbstbeschafften Pistolen so lange verwendet wie nur irgendmöglich. Nachdem die Marineleitung gegen Ende der 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts die zweite in Frankreich normierte Perkussionspistole , die Marinepistole M 1837 eingeführt hatte, wurden tatsächlich, so belegen bekannt gewordene Einzelexemplare, die Pistolen mit dem Seehundskopf noch von privaten Büchsenmachern auf das neue Perkussionssystem umgebaut.
Lieferungen an die Handelsmarine
Neben der Ausführung nicht unerheblicher, staatlicher Aufträge zur Ausrüstung der französischen Kriegsmarine fertigten die Arbeiter und Meister in der Tuller Manufaktur offensichtlich auch Waffen an, die auf Bestellungen von Handelsschiffkapitänen oder deren Offizieren zurückzuführen sind. Es war schließlich nur natürlich, daß Kauffahrer, Kapitäne von Sklavenschiffen und natürlich auch Freibeuter versuchten, sich mit den zumindest annähernd gleichen Waffen auszurüsten, mit denen die Kriegsmarine ausgestattet war - letztendlich konnten die Waffen, welche die Kriegsmarine benutzte, nicht schlecht sein. Und da sich der Ruf der Manufaktur in Tulle als ausgesprochene „Marinemanufaktur“ recht schnell herumgesprochen hatte, verwundert es nicht, daß auch die zivile Seite der Marine versuchte, ihren Handwaffenbedarf dort zu decken. Offensichtlich wurde dieser zivile Bedarf verstärkt durch die Büchsenmacher und Ladenbesitzer in Tulle gedeckt, die, wie bereits beschrieben, gleichzeitig für die staatliche Manufaktur gearbeitet haben, doch sind offensichtlich solche Waffen auch in der Manufaktur selbst hergestellt und vertrieben worden.